Samstag, 28. November 2015

Der soziale Organismus – Eine aphoristische Betrachtung

In der letzten Ausgabe des "Wegweisers Anthroposophie" in diesem Jahr ist der 1. Teil einer aphoristischen Betrachtung zum sozialen Organismus erschienen. Das Heft kann ››› hier abgerufen werden. Der zweite Teil folgt im nächsten Jahr.

Teil 1: Was macht den sozialen Organismus zu einem Organismus und wie wirken seine Glieder ineinander? 


Der Sozialwissenschaft ist es nicht um den einzelnen Menschen zu tun. Das „Atom des sozialen Zusammenlebens“ ist nicht der einzelne Mensch, es ist die Begegnung zwischen Menschen, das abwechselnde Sich-Hineinversetzen des Ichs eines Menschen in das Ich eines anderen und das Wieder-Geltendmachen der eigenen Persönlichkeit, ein „Vibrieren zwischen dem Einschlafen in dem anderen und Aufwachen in uns selbst“. Das ist das „Urelement“, das auch allen „komplizierten Gebilden des sozialen Lebens“ zugrunde liegt“(1). Als „Urphänomen der Sozialwissenschaft“(2) bildet es den einen Pol der Betrachtung. Worin finden wir den anderen?

„Die ganze Erde, als Wirtschaftsorganismus gedacht, ist der soziale Organismus.“(3)

Was hier ausgesprochen ist, mag der üblichen Vorstellung eines Anthroposophen widersprechen – der soziale Organismus ist doch ein dreigliedriges „Etwas“ mit einem Geistesleben, einem Rechtsleben, einem Wirtschaftsleben – die Wirtschaft also nur eines von dreien. Und doch sagt Rudolf Steiner hier: Der soziale Organismus entspricht dem globalen Wirtschaftsorganismus. Wie kann man dies auffassen?

Arbeitsteiliges Wirtschaften in der Industriegesellschaft

Die moderne Industriegesellschaft zeigt sich von der Seite der Produktion als „durchgehendes Verbundensein arbeitsteilig wirkender Arbeitsstätten, die – den Tatsachen nach – ein Ganzes“(4), ein „integrales System“(5) bilden; das umfassendste „komplizierte Gebilde“ des sozialen Lebens. Verwobene Vorgänge aus unzähligen konkreten Begegnungen und Verständigungen als Grundlage von im Einzelnen zielgerichteten Taten, die jedoch in ihrer Gesamtheit nicht überblickbar sind.

Alle Vorgänge werden zu einem Ganzen integriert, auch alles Geistesleben – insofern es sozial in Betracht kommt. Dieses bildet ein Funktionssystem, das den sozialen Organismus impulsiert und befruchtet, ja überhaupt erst hervorgebracht hat. Denn es ist die organisierende Kraft des Geistes, die die Arbeit im Wirtschaftsleben – durch zahlreiche Erfindungen, durch die Applikation der Wissenschaft – immer mehr so gestaltet hat, dass uns die Wirtschaft in ihrer globalen, arbeitsteiligen Vernetzung als ganzheitlicher Organismus – gegenübertreten kann. – Und alle einzelnen, konkreten Vorgänge in diesem Ganzen sind von unseren individuellen Fähigkeiten getragen; auch ein Element dessen, was wir als Geistesleben bezeichnen.

Der Staat auf der anderen Seite ermöglicht und begrenzt alle Vorgänge durch die Gesetze. Rechtsvorgänge wie das Vereinbaren von Arbeitsverträgen, die Einkommensordnung, der rechtliche Schutz der Mitarbeiter eines Unternehmens usw. bilden – neben der Natur – die Grundlagen und Grenzen des wirtschaftlichen Lebens (6).

Geldvorgänge sind Rechtsvorgänge

Auch die Geldvorgänge sind Rechtsvorgänge: Im Herausgeben eines Kredits verpflichtet das so geschöpfte Geld ein Unternehmen, die dort versammelten Fähigkeiten in die Richtung der jeweiligen Unternehmensziele einzusetzen. Als Einkommen berechtigt das Geld uns, einen Teil des Gesamtstromes der hervorgebrachten Werte – Produkte und Dienstleistungen – für uns selbst in Anspruch zu nehmen.

Im Zurückzahlen der Kredite schließt sich der Kreis. Überschüsse (Gewinne) dienen jetzt dazu, die Produktionssphäre durch Investitionen zu erhalten und weiterzuentwickeln oder alles das zu finanzieren, was der Subvention bedarf. (7)

Alle im allgemeinen Interesse liegende Wirtschaft, wie etwa der Straßenbau, die Müllabfuhr, die soziale Versorgung sind hier zu betrachten. Aber auch das Kultur- und Geistesleben, allem voran das Schul- und Universitätswesen gehören hier hinzu.

Heute nimmt vor allem der Staat die Aufgaben der Finanzierung  dieser Bereiche wahr und erhebt dafür Steuern. Wesensgemäßer könnte dies aus einem assoziativen Verständnis der Wirtschaft selbst erfolgen.

Wo heute Stiftungen diese Aufgaben schon teilweise übernehmen oder innerhalb von Konzernen etwa auch Forschung finanziert wird oder wo ein Betriebskindergarten existiert, kündigt sich dieses schon an. Allerdings ruhen diese Vorgänge nicht auf einer aus dem Ganzen gewonnen Urteilsgrundlage und dienen so meist den Separatinteressen weniger. Wesenswidrige Begriffe wie das Profitprinzip oder der Begriff des Privateigentums an Produktionsmitteln überlagern diese Tendenzen und wirken krankmachend.

Die Entwicklung der Wirtschaft und der soziale Organismus

Von einem sozialen Organismus zu sprechen, ist also erst in der jüngeren Entwicklung der Wirtschaft hin zu einem global-arbeitsteiligen, industrialisierten und kommunikativ-vernetzten Geschehen möglich. Die einzelnen Staaten mit ihrem jeweiligen Rechtsleben – das sich über viel längere Zeiträume entwickelt hat – sehen sich nun vor die Aufgabe gestellt, für ein gewisses Gebiet den Rechts-Boden für ein Geschehen zu gestalten und zu schützen, das über die Grenzen des jeweiligen Staates hinaus die ganze Welt umfasst.

Das geistige Leben das im Altertum alle Vorgänge zentral durch eine Instanz – etwa den Pharao – gestaltete, hat sich individualisiert und es wird so zu einer Aufgabe der Demokratie, dass die Individuen als Gleiche unter Gleichen die Verantwortung für alle gesellschaftlichen Belange mittragen. So sind wir heute auch alle in unserem individuellen Geistesleben aufgerufen, den sozialen Organismus in seinen Elementen und Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und zu seiner Heilung beizutragen.

Diese Elemente und Gesetzmäßigkeiten im Einzelnen noch näher anzuschauen, soll in einem 2. Teil im nächsten Heft geschehen. [In der Zwischenzeit auch ››› hier zu finden]

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1.) Rudolf Steiner am 19. 10. 1919, GA 191
2.) ders. am 12. 12. 1918, GA 186
3.) ders. am 24. 7. 1922, GA 340
4.) Wilhelm Schmundt, Erkenntnisübungen zur Dreigliederung des sozialen Organismus, Achberg 1982, S. 38
5.) Vgl. Eugen Löbl, Wirtschaft am Wendepunkt, Achberg 1975, S. 35ff. Löbl, Staatsbank-Direktor in Bratislava in der Zeit des Prager Frühling, kommt in seinen ökonomischen Arbeiten ebenso zum Begriff des „Organischen“, den er – wie Steiner auch – in der Entwicklung der Wirtschaft hin zu einem Ganzen identifiziert.
6.) Vgl. Rudolf Steiner, Die Kernpunkte der sozialen Frage, GA 23, S. 70
7.) Diese Darstellung des Geldkreislaufes als ein Geschehen des Rechtslebens geht in dieser Form auf Wilhelm Schmundt zurück. Die Anknüpfungspunkte dafür konnte er im Nationalökonomischen Kurs Rudolf Steiners (GA 340) im 8. Vortrag, 31. Juli 1922, besond. S. 116ff finden.

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