Samstag, 10. Januar 2015

Je suis Olaf

 (splitter no.2)*


Motiv aus dem Traumlied von Olaf Åsteson
(Zeichnung Loes Swart)
Um die Zeit in ihrer geistigen Realität zu erkennen, müssen wir die Ereignisse des Zeitgeschehens mit dem "apokalyptischen" Blick zu durchdringen versuchen. Die zurückliegenden Tage, die Bilder, die zu den aktuellen Ereignissen über alle Kanäle ins Haus geliefert wurden, mögen bei dem Wort "apokalyptisch" auch das landläufige Verständnis von "Weltuntergangsszenario" nahelegen. Doch so soll es nicht verstanden werden – vor allem nicht in äußerlicher Hinsicht. Apokalypse meint "Entschleierung". Der "apokalyptische Blick" versucht hinter den Schleier zu schauen.

Und so kann gefragt werden: Hat das uns in den letzten Tagen so sehr beschäftigende Ereignis des Terroranschlages auf das Französische Satire Magazin "Charlie Hebdo" dem neuen Jahr 2015 – gleich zu seinem Beginn – eine besondere Prägung gegeben? Wurde hier ein Thema angeschlagen, das uns nun über längere Zeit beschäftigen wird, auch schon beschäftigt hat in vergangenen Jahren, das aber jetzt eine neue Dimension bekommen soll bzw. bekommen wird? Eine Gefahr, die aufzuziehen droht, aber zugleich eine Aufgabe, die uns damit gestellt wird?

Zu diesen Gedanken wurde ich geleitet durch mehrere Bezüge, die mir das Geschehen offenbarte: Einem Freund war aufgefallen, wie das Ereignis gerade am ersten Tag nach jener Zeit im Jahreslauf geschah, die als Zeit der 13 heiligen Nächten oder 13 heiligen Tagen (zwischen Heiligabend und Epiphanias/Dreikönig am 6. Januar) bezeichnet wird. Das besondere dieser Zeit kann auch darin erlebt werden, dass die Qualität der Wochentage in dieser Zeit wie zurücktritt. Zwar mag der Kalender Montag oder Donnerstag zeigen, doch man kann bemerken, dass man – wenn man es sonst möglicherweise unmittelbar weiß – es sich verstandesmäßig herleiten muss, wo im Wochenverlauf man sich gerade befindet. Die Zeit fällt aus dem normalen Fortgang von Tag zu Tag heraus – es ist die "Zeit zwischen den Jahren". Und nun aus dieser heiligen Weihnachtszeit heraus fällt die Welt einen Tag nachdem der drei Könige aus dem Morgenland gedacht wurde, in den Schrecken eines Terroraktes.

Ein einzelner solcher "Hinweis" auf einen Zusammenhang genügt jedoch noch nicht, um Sicherheit im Urteil gewinnen zu können. Doch trägt man einen solchen Gedanken in die Nacht, kann er zur Schale werden, in den hinein sich die geistige Welt aussprechen kann: „Was sich aus höheren Welten offenbart, das prägt sich am allerbesten ein in diejenigen Formen des Vorstellens, die wir als Gedanken diesen höheren Welten entgegenbringen; das ist das beste Gefäß.“ (Rudolf Steiner, Stuttgart, 13. November 1909, GA 117 siehe auch hier auf Gangandi Greidi). Und so kam es, dass der aus der Nacht kommenden Seele bemerkbar wurde, wie jener Gedanke, dass erst nach dieser "heiligen Zeit" der Wochenrhythmus mit den unterschiedlichen Qualitäten der sieben Wochentage wieder einsetzt, auch durch den Namen des dem Terroranschlages zum Opfer gefallenen Magazins eine Bestätigung erfährt: Das "Hebdo" in "Charlie Hebdo" ist eine Abkürzung von „hebdomadaire“ und bedeutet "wöchentlich" oder "Wochenzeitschrift" und kommt von dem griechischen Wort für "sieben" (heptá).

Und noch ein drittes kam hinzu: Das Geheimnis der 13 heiligen Nächte kommt besonders in dem "Traumlied von Olaf Åsteson" zum Ausdruck. Olaf Åsteson fällt zur Weihnachtszeit – für genau diese 13 heiligen Nächte in einen Traumschlaf und "erlebt in diesen dreizehn kürzesten Tagen, indem er entrückt ist in den Makrokosmos, mancherlei Geheimnisse des Weltenalls" (Rudolf Steiner am 31. Dezember 1914, GA 275), am 6. Januar erwacht, erzählt er von seinen Erlebnissen. Die norwegische Legende war auch Teil einer zurückliegenden Tagung in Achberg und ich hatte am 6. Januar das Lied in einer Übersetzung von Rudolf Steiner mit 13 Zeichnungen von Loes Swart hier auf Gangandi Greidi gestellt. – Und lebt doch "Charlie Hebdo" gerade durch seine satirischen Karikaturen, die auch der Anlass für den Terroranschlag waren (Mohammed-Karikaturen), so konnten die Illustrationen der von Olaf Åsteson erlebten geistiger Vorgänge wie eine innere Bezugnahme zu den Ereignissen erlebt werden – und so ging es unabhängig von den hier mitgeteilten Gedanken auch der Künstlerin.

Diese Satz ging in wenigen Stunden
um die ganze Welt
Von diesem von drei sich gegenseitig stützenden Seiten her sich bildenden "Tableau" können wir die Ereignisse nun mit einem anderen Blick weiter verfolgen und weitere Fäden des Gewebes entdecken, um eine tiefere Antwort zu finden auf die Frage, womit da eigentlich das Jahr seinen Auftakt nahm?

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich in unserer medial vernetzten Welt ein Satz – gepostet als Hashtag auf Twitter, als Bild auf Facebook, in allen Medien: "Je suis Charlie". Der Name des Magazins als Synonym für eine "Kultur", für eine Wertegemeinschaft, in der Meinungsfreiheit ein hohes Gut ist, das man sich nicht nehmen lassen will. Doch auch der Name "Olaf Åsteson" steht für mehr als nur eine Person – auch mit diesem Namen ist auf etwas verwiesen, was über den Namen einer Person hinausweist. Hinausweist auf einen geistigen Impuls, der seit Jahrhunderten in sich wandelnder Gestalt für etwas wirkt, was unserer "Kultur" noch weithin fehlt – was überhaupt erst die Grundlage bilden kann für wahre Freiheit.

In einem Vortrag am 30. Dezember 1987 im Rahmen der damaligen Weihnachtstagung am Goetheanum in Dornach versuchte Jörgen Smit seinen Zuhörern den "Nordische Einweihungsweg im Traumlied des Olaf Åsteson" nahezubringen.

Mit Rudolf Steiner deutet er auf die geistige Quelle einer "Mysterienschule in Südnorwegen, mit einem grossen christlichen Eingeweihten [...] um das Jahr 400 herum. Und was da geschah, in dieser Mysterienschule, war gross, umfassend. Wovon dasjenige, was im Traumlied später, also in der sprachlichen Fassung vom 13. Jahrhundert und später, weitergelebt hat, nur ein kleiner Reststrom ist von einem grossen geistigen Geschehen in dieser Mysterienschule, die durch Jahrhunderte gegangen ist, und wo Olaf Åstesons Einweihungsamt gewesen ist." Und dann verweist Smit auf das schon angedeutete: "Der Name ist nicht nur ein persönlicher Name, sondern viel mehr. Wir kennen dies aus vielen Verhältnissen. Der Name Zarathustra, Balder, Arthur, König Arthur. Diese bekannten grossen Namen müssen wir immer doppelt fassen. Es ist ursprünglich eine bestimmte Individualität. Dann ist es aber eine Funktion in einem Mysterienstrom, wo dann viele denselben Namen weiter erhalten haben, um diesen geistigen Strom weiterzutragen." (Hervorhebung GS)

Der Vortrag von Jörgen Smit kann in seiner Gänze hier nicht wiedergegeben werden. Er sei jedem ans Herz gelegt (siehe Link oben). Hier sei nur angedeutet, wie es bei Olaf Åsteson um ein Zusammenführen zweier Wege geht, dem mikrokosmischen (nach innen) und dem makrokosmischen Weg (nach außen):
"Die beiden Wege müssen vereinigt werden. Und darin sehen wir, wie schwierig das ist. Wenn wir die Mystiker des Mittelalters betrachten, am Ende des Mittelalters und am Anfang der neueren Zeit, finden wir die grossartigsten wahren inneren geistigen Erlebnisse, aber immer mit der Gefahr, doch ein wenig im Subjektiven steckenzubleiben. Man erlebt Christus in sich, wahr – richtig; und dann bleibt man da nur allzuleicht. Man steigt, versucht hinunterzusteigen, hineinzusteigen zum Göttlichen, und nur allzuleicht bleibt man in einer subjektiven Sphäre, sodass es nicht Tatkraft haben kann auf dem Erkenntnisweg nach aussen auch. Zuerst musste der Weg nach aussen kräftig gesucht werden. Aber wie ging das? Der Weg der Naturwissenschaft ist der Weg nach aussen, aber gleichzeitig das Geistige verlierend. So dass man auf dem Weg nach aussen nur das Äussere, Veräusserlichte, nur sinnlich Wahrnehmbare findet, und nicht das Geistige im Makrokosmos. Die ganze Entwickelung der Naturwissenschaft vom 15. Jahrhundert bis heute ist ein riesengrosser Weg des Makrokosmos – nach aussen, aber den Geist nicht findend. Und dann sich verlierend, den Menschen verlierend. Und je mehr der Geist nicht erreicht wurde, ging der Mensch nach innen zu suchen, aber nur allzuoft bleibt er nur im Innern stecken. Es genügt ihm, wenn er ein Geistig-Moralisches im Innern findet für seine Lebensgestaltung, und lässt das andere liegen."
Und dieses steckengebliebene Geistig-Moralische im Inneren, von dem Jörgen Smit spricht, finden wir in einer gewissen Weise  jetzt auch, wenn wir die Worte hören, die in Reaktion auf die Ereignisse etwa aus den Mündern der Politiker kommen. Wenn da beschworen wird, dass es jetzt nicht zu einem "Kampf der Kulturen" kommen darf, wenn gebetsmühlenartig wiederholt wird, dass der Islamismus nicht mit dem Islam verwechselt werden darf. Doch wenn diese an sich richtigen Worte nicht aus geistigen Realitäten aufgefasst werden, wenn sie nicht mit konkreten Ideen für das Soziale verbunden werden, dann werden es nicht Warnungen vor Gefahren sein, die wir abwenden können – womit denn in unserer einseitig materialistischen, der Herrschaft des Geldes unterworfenen Welt? – sondern es werden sich selbst erfüllenden Prophezeiungen sein, die den "Raum der durcheinanderflutenden Leidenschaften" nur vergrößern. Und so können gerade diese Beschwörungen – gerade die suggestive Nennung der Gefahren, die man vorgibt abwenden zu wollen – wie das "Programm" klingen, das für das neue Jahr jetzt auf die Tagesordnung gesetzt wird. Bewusst oder "unbewusst"? Von Rudolf Steiner wissen wir, dass letzteres nur heißt, dass hinter dem Unbewussten eine höhere Bewusstheit steht, die Bewusstheit eines dämonischen Geistes (s. Vortrag vom 18. November 1917, GA 178). Das leere Reden vom Frieden, von Toleranz usw. wird dann nur der Vorbote sein von weiteren Turbulenzen, Terror und Krieg.

Rudolf Steiner hat die Wege gezeigt, aus dieser Ohnmacht herauszukommen. Es gibt Kräfte, die uns in ihr festhalten wollen. Die Anthroposophische Bewegung hat sich bisher als noch nicht stark genug erwiesen, um auch nach außen sichtbar dem etwas entgegenhalten zu können, um aus dem "Zeitstau", in dem die Welt steckt, herauszuführen. So wird dieses Jahr eingeläutet mit dem Schrecken eines Terroraktes, der in der Zeit, in der der erste Weltkrieg 100 Jahre zurückliegt, noch weiter das "Karma des Materialismus" (siehe Link Zeitstau) vollzieht.

Doch die Wege sind gewiesen: Der Goetheanismus – "Das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit" als "die wahre Kommunion des Menschen" (GA 1, Kap. VI "Goethes Erkenntis-Art") –, der Hinweis auf das mit sich selbst verständige Seelenleben im ethischen Individualismus der Philosophie der Freiheit (GA 4), der die Klippe des Dualismus, in den das Gedankenleben im 19. Jahrhundert führen musste, überwindet und zuletzt die darauf aufbauende Anthroposophie als ein "Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltenall führen möchte" (1. Anthroposophischer Leitsatz, GA 26). Alles Schritte den mikrokosmischen mit dem makrokosmischen Weg zu vereinen:
"Die Zeit kam herauf, wo man alles, was man an geistigen Kräf­ten hatte, zum Begreifen und Erfassen des materiellen Lebens anwendete. Immer mehr und mehr wurde vergessen, wie wir gesehen haben, dasjenige, was an Einblicken und Einsichten, an Schauungen in die geistige Welt aus alten Erkenntnissen vorhanden war. Aber es ist nicht richtig, wenn man nur böse Worte für diese Zeit hat. Richtig ist vielmehr ein anderes, richtig ist, wenn man bedenkt, daß diese Menschenseele in ihrem wachen Teile materialistisch ge­dacht, materialistisch gesonnen hat, daß sie materialistisch die Wissen­schaft und die Kultur begründet hat, daß aber diese Menschenseele ein Ganzes ist. Wenn ich schematisch das ausdrücken soll, so könnte ich sagen: Der eine Teil der Menschenseele begründete die materia­listische Kultur. Früher war dieser Teil untätig, die Menschen wußten nichts von äußerer Wissenschaft, wußten nichts von äußerlichem, materiellem Leben; da war der spirituelle Teil mehr wach. In den letzten vier Jahrhunderten war gerade jener Teil wach, der die materialistische Kultur begründete, der andere aber hat geschlafen, er schlief, dieser andere Teil der Menschenseele. Und wahrhaftig, das, was wir jetzt an Kräften entwickeln in der Mensch­heit, um uns wieder hinaufzuarbeiten zur Spiritualität, ist veranlagt worden in der Zeit der materialistischen Kultur in den Seelengliedern, die unten geschlafen haben. Die Menschheit war wirklich in bezug auf die Geist-Erkenntnis in diesen Zeiten: Olaf Ästeson. Das war sie wirklich. Nur ist sie noch nicht erwacht, diese Menschheit! Die Geisteswissenschaft muß sie zum Erwachen bringen. Die Zeit muß kommen, wo junge und auch alte Leute Worte hören, die gesprochen werden aus dem Teil der Menschenseele heraus, der geschlafen hat in der finsteren Zeit." (Rudolf Steiner bei einem Vortrag zum Traumlied am 31. Dezember 1914, GA 275, Hervorhebung GS)
Olaf Åsteson ist am 13. Tag erwacht und konnte von seinen Erlebnissen berichten. Wann wird die Menschheit sagen können: "Wir sind der erwachte Olaf Åsteson" oder auch "Nous sommes le Charlie réveillé"?

Nachtrag 12. Januar 2015: Heute ist noch ein nächster, kurzer "Splitter" entstanden, den ich auf meinen anderen Blog gestellt habe: "Charlie und das Volk".

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* Mit den "Splittern" bezeichne ich kürzere (und gelegentlich auch längere) Texte auf meinen beiden Blogs (Gangandi Greidi und zapata33com), denen etwas Bruchstückhaftes, Fragmentarisches inne ist. Gedanken zu aktuelle Ereignisse, die sich noch nicht bis ins letzte offenbart haben. Kurze Kommentare, die auf größere Begründungszusammenhänge verzichten. Aphoristisches.

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