Samstag, 15. März 2014

Blicke auf die Ukraine

Wie alle Zeitgenossen hat auch mich in den letzten Wochen das Schicksal der Ukraine beschäftigt. Ich möchte aus dem, was mich dabei befasste, drei "Splitter" mitteilen: Einen kurzer Text, den ich schon vor eineinhalb Wochen geschrieben habe, eine besondere Fügung, auf die mich ein Freund gestern aufmerksam gemacht hat und eine persönlich-überpersönliche Gegebenheit. Ich beginne mit dem kurzen Text, der entstanden ist, als ich mich eines Zitates von Rudolf Steiner erinnert habe.

In ideenlosen Zeiten ...



Picasso, 1949

War, was in der Ukraine geschehen ist, ein Putsch gegen einen demokratisch gewählten Präsidenten oder eine Revolution – ein „Kiewer Frühling“ – gegen einen Diktator? Hat die EU der Ukraine bloß einen Platz in ihrer friedlichen Völkerfamilie angeboten? Russland hingegen das Interesse, seine globale Größe in einem eigenen eurasischen Machtblock zu befestigen und ist dann das Vorgehen des Westen, der USA nicht doch darauf gerichtet, die Region zu destabilisieren, um solches zu verhindern? – Sind es die selben Strategien, die schon vor 100 und mehr Jahren betrieben wurden, um Russland zu schwächen, indem man die angrenzenden Regionen von der „russländischen“* Einflusssphäre abtrennt? Oder wird, gepaart mit politischer „Nullität“, aus kollektiven Gewohnheiten gehandelt und war es für die Akteure nicht vorhersehbar, dass die Annäherung der EU an die Ukraine Gespenster wecken würde und ein solches Vorhaben eine Sprengkraft enthielte, die sich jetzt auch entladen hat? Und wird das nicht alles in Kauf genommen, um letzlich wirtschaftlichen Einfluss auf den Energiemärkten zu sichern?

„Man reicht aus, ohne daß man Ideen hat, in Zeiten von Revolutionen und Kriegen, man kann aber nicht ausreichen ohne Ideen in Zeiten des Friedens; denn werden die Ideen in Zeiten des Friedens rar, dann müssen Zeiten von Revolutionen und von Kriegen kommen.“ Dieser Gedanke, so Rudolf Steiner, könne – indem er einen „inneren spirituellen Zusammenhang“ zum Ausdruck bringt – eine „Richtkraft für soziales Denken in der Zukunft“ sein. „Und alle Deklamationen über den Frieden nützen nichts, wenn nicht diejenigen, die die Geschicke der Völker zu leiten haben, sich bemühen, gerade in Friedenszeiten Ideen zu haben. Und sollen es soziale Ideen sein, so müssen sie sogar von jenseits der Schwelle herrühren.“ (Vortrag vom 24. 11. 1918, GA 185a)

Welche Ideen fehlen? Solche, die Antworten geben, auf die wirtschaftlichen Kämpfe, die nur in Ausnahmefällen auch mit militärischen Mitteln geführt werden, dennoch, auf unser aller Wohl und Wehe Einfluss nehmend, global toben. Und andererseits solche Ideen, die etwas ins Spiel bringen, was darauf gerichtet ist, die unterschiedlichen Qualitäten der verschiedenen Weltregionen in einer global-solidarischen Wirtschaftsordnung zu integrieren.

Über solche sich ergänzende Qualitäten der Völker und Erdteile kann die anthroposophische Geisteswissenschaft Auskunft geben. Einer noch immer aus den nationalen Kräften herrührende „Standortpolitik“ kann sie das Bild der „ganzen Erde als Wirtschaftsorganismus“ (R. Steiner im 1. Vortrag des Nationalökonomischen Kurses, GA 340) begrifflich differenziert entgegenhalten. – Hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg und hundert Jahre nachdem Rudolf Steiner auf den Krieg mit der Friedensidee der „Dreigliederung des sozialen Organismus“ geantwortet hat, ist es mehr denn je die Aufgabe der Anthroposophischen Bewegung und Gesellschaft sich heilsam ins Weltgeschehen einzubringen. Es gehört zu unseren zentralen Aufgaben, „für alle Zweige des menschlichen Lebens“, die „Konsequenzen auszuarbeiten“ (Rudolf Steiner am 30. Januar 1924, GA 260a, S. 112ff), die sich aus der Tatsache ergeben, dass die Anthroposophie als moderne Geisteswissenschaft, sozusagen als Wissenschaft für „Ideen von jenseits der Schwelle“, ins Erdengeschehen eingetreten ist.

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*) Verweist das Wort „russisch“ auf den sprachlich-kulturellen Zusammenhang, hat der Ausdruck „russländisch“ in der Landessprache staatlich-imperiale Bedeutung, vgl. Markus Osterrieder, Sonnenkreuz und Lebensbaum, Stuttgart, 1995, S. 286

* * *

Zum 16. März


Der zweite Blick ist auf die Krim gerichtet, wo morgen am 16. März über die Zukunft der Halbinsel eine Volksabstimmung stattfinden soll und eine weitere Spaltung und Destabilisierung droht.

Am 16. März jährt sich auch ein anderes Ereignis dieses Ortes. Es ist der 70. Jahrestag des Flugzeugabsturzes von Joseph Beuys während der "Schlacht um die Krim" im zweiten Weltkrieg. Der Pilot der Stuka Hans Laurinck kam bei dem Absturz ums Leben. Beuys wurde verletzt.

Mit diesem Foto des jungen Beuys als Soldat machte vor knapp
einem Jahr der Spiegel seinen ››› verleumderischen Artikel auf. 

Über zwei Jahrzehnte später, im Jahr 1967 gründet Beuys dann im Ideenfeld von Freiheit - Demokratie - Sozialismus den Staat "Eurasia" und im selben Jahr macht er mit seiner ››› Aktion "Eurasienstab" in Wien auf die Notwendigkeit einer Brücke zwischen Ost und West aufmerksam.

Es soll hier nicht mehr über diese Sache gesagt werden. Die Idee eines Ost und West integrierenden "dritten Weges", wie er bei Beuys damals schon ein Rolle gespielt hat (siehe: Beuys und seine Quellen), taucht auch in dem dritten, biographischen und doch überpersönlichen "Splitter" auf.

 * * *
Wenn wir bei der Ukraine auf den Ost-West Zusammenhang blicken, so führt uns das Jahrhunderte in der Geschichte zurück, bis in die Zeiten, wo das Schisma die byzantinische von der römischen Kirche trennte. Darauf kann nicht näher eingegangen werden.

Im Jahr 2004 ereignete es sich aber, dass in Odessa eine Gemeinde der Christengemeinschaft eingeweiht werden konnte. Es war dies die erste Gemeinde der "Bewegung für religiöse Erneuerung" im orthodoxen Osten.

Schwarzes Meer - Hafenrundfahrt, Odessa im Herbst 2004
Ich habe zu dieser Zeit eine regelmäßige Arbeit aus den Inhalten unserer "Achberger Schule" in der Wiener Gemeinde der Christengemeinschaft angeboten. Und es war auch die Zeit, wo der Blick auf die Frage nach einer Verfassung für Europa gestellt war.

So wurde ich zur Gründungs-Tagung in die Ukraine eingeladen, damit, wie die damalige Priesterin in Wien, Frau König, meinte, das Europa-Projekt in Odessa auch mit anwesend sei.

Kurz vor der Abreise konnte in dieser Arbeit eine wichtige Publikation, ein Memorandum fertig gestellt werden und so kam es mit ins Gepäck. Dass es der 16. September war, also jener Tag an dem 1922 die Christengemeinschaft gegründet wurde, als das Heft aus der Druckerei kam, war eine schöne Fügung und Zeichen der Zeit.

Europa-Memorandum 2004
Es war dann sehr schmerzhaft, dass vor Ort kein Raum war, die mitgebrachte Botschaft mit den ukrainischen Freunden zu besprechen, nur wenige Gespräche mit einzelnen Tagungs-Teilnehmern waren möglich. Für die Gemeinde selbst und ihre Priester blieb nur, dass ich das Memorandum in einer stillen, unbemerkten Geste auf den Gabentisch legte, wo aus aller Welt die Geschenke sich versammelten.

Dieses Geschehen stand in Verbindung mit den inhaltlichen Aspekten, die während der Begründungs-Tagung in den Blick gerückt wurden: Es ging um die Slaven-Mission, um Kyrill und Method, wie sie einst im 9. Jahrhundert vom schwarzen Meer her in das Gebiet des Mährischen Reiches kamen. Und wie sie auch auf dem Weg waren um Papst Nikolaus I. in Rom zu treffen, dem es ja darum ging, die Ost-West-Dimension richtig einzuschätzen, im Hinblick auf die Maßnahmen, die notwendig waren, um die Mitte Europas für die Ausbildung des Intellekts vorzubereiten und zu konfigurieren, wie es vor kurzem auch ››› hier angeklungen ist.

Die beiden Missionare trafen Nikolaus nur noch tot an und die Fragen, wie sich die Slaven in dieser welthistorischen Fragestellung, die die Entwicklung Europas für über 1000 Jahre in die Zukunft vorbereiten sollte, konnte nicht mehr gemeinsam beraten werden.

Ich schrieb damals, als ich das Memorandum still auf den Tisch legte, ein "Ungehörtes Grußwort" in mein Notizbuch:

Durch ein
Sternentor trat
ein der Keim
zur Brücke.

Der Hort dafür
will zweifach werden:
Europa und die Christenheit.

Tor Odessa will
beidem Eintritt geben.

Dieses Bild vom Tor Odessa stammt aus der Zeit der Gründung der Stadt, als Katharina im Süden, wie Peter im Norden, mit dieser Stadt am schwarzen Meer ein Tor nach dem Westen öffnen wollte. So wurde es uns bei der Tagung erzählt.

Jetzt zehn Jahre später toben Machtkämpfe um dieses Tor oder diese Brücke zwischen Ost und West. Und die Gedanken, die in dem Europa-Memorandum die Perspektive eines "Dritten Weges" weisen, sind aktueller als damals. Es seien zwei Absätze daraus zitiert:

"Wollen wir das [eine Grundlage, um im 21. Jahrhundert auf bestmögliche Weise für den sozialen Fortschritt und Frieden in der Menschheit wirken zu können] erreichen, müssen wir die richtigen strukturellen Konsequenzen aus der zentralen historischen Frage ziehen, die dem 20. Jahrhundert seit dem Ende des Ersten Weltkriegs gestellt war: Allen Verhältnissen dieser Epoche lag die Frage zugrunde, die sich aus dem Gegensatz zwischen dem Privatkapitalismus einerseits und dem Staatskommunismus andererseits ergab. Diese Frage war diejenige nach einem zeitgeschichtlich entwicklungsgemäßen dritten Weg – aber sie wurde weder auf der einen noch auf der anderen Seite verstanden. Vielmehr wurde sie, wann immer sie im Zeitbewusstsein aufdämmerte, oberflächlich behandelt, ideologisch bekämpft und notfalls auch militärisch niedergedrückt. Ohne hier ausführlicher auf diese Zusammenhänge eingehen zu können, sei aber festgestellt, dass die sozialen Spannungen und Gegensätze auf der Welt (mit ihren Konflikten, Krisen, Kriegen und Katastrophen) erst dann zu besiegen sein werden, wenn erkannt ist, dass dafür die Verwirklichung dieses dritten Weges unabdingbar ist.

Die heutige Europäische Union gründet auf der Annahme, der politische, ökonomische und ideologische Bankrott des Kommunismus Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts habe den Kapitalismus als den legitimen historischen Sieger dieser Auseinandersetzung bestätigt. Wer diesem ideologischen Vorurteil nicht folgt, wird erkennen, dass dasjenige, was die eigentliche Herausforderung in diesem Grundkonflikt des 20. Jahrhunderts war, durch den Sieg der einen Seite historisch noch keineswegs »abgewickelt«, das heißt bereits dergestalt überwunden ist, dass damit schon eine neue Seite im Buch der Geschichte aufgeschlagen wäre. Letzteres wird erst dann der Fall sein, wenn auch der Kapitalismus in seiner neoliberalistischen Erscheinungsform überwunden ist. Das zu verwirklichen, ist die eigentliche Aufgabe der Europäischen Union."

Auch was wir für die Achberger Ostertagung vorbereiten, spricht die Fragen an, die für die Ukraine-Problematik von Bedeutung sind. Wir werden daran weiter arbeiten. Und jeder ist eingeladen, sich zu beteiligen.



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