Mittwoch, 22. Mai 2013

"Herrschen muß heute das Volk, eine Regierung darf nur regieren."

Am heutigen Tag im Jahr 1919 – noch am Beginn der "Dreigliederungszeit" – sprach Rudolf Steiner in einer Diskussion mit Arbeiterausschüssen großer Betriebe in Stuttgart folgende Worte:
"Wir stehen heute auf einem anderen Boden, und heute sind eben die Menschen nicht so, daß sie sich von kleinen Gruppen dasjenige diktieren lassen wollen, was sie zu tun haben, und daß sie bloß eine kleine Gruppe gegen eine andere kleine Gruppe austauschen wollen. Heute will schon ein jeder mittun. Heute ist die Zeit, in der man lernen muß den Unterschied zwischen herrschen und regieren. Es scheint ja allerdings so, als ob dieser Unterschied noch nicht gründlich genug erkannt worden ist. Herrschen muß heute das Volk, eine Regierung darf nur regieren. Das ist es, worauf es ankommt. Und damit ist auch gegeben, daß in einem gesunden Sinne heute die Demokratie notwendig ist. Deshalb habe ich auch keine Hoffnung, daß man mit den schönsten Ideen etwas erreichen kann, wenn man sie durch kleine Gruppen verwirklichen will und wenn man nicht getragen wird von der Erkenntnis und Einsicht der wirklichen Majorität der Bevölkerung. Die wichtigste Aufgabe heute ist, die große Mehrheit der Bevölkerung für das zu gewinnen, was man als Möglichkeit zur Veränderung erkannt hat. So stehen wir heute vor der Notwendigkeit, für das, was zuletzt wirklich an wahrer Sozialisierung erreicht werden wird, in demokratischer Weise die Mehrheit der Bevölkerung zu haben." (R. Steiner an einem Diskussionsabend in Stuttgart am 22. Mai 1919, GA 331, S. 68f) 

Richard Wagner 1842, Zeichnung von Ernst Kietz
Es war dieser 22. Mai 1919 Richard Wagners 106. Geburtstag. Daran sei heute an seinem 200. Geburtstag erinnert! Denn die Unterscheidung zwischen "herrschen" und "regieren" kommt auch schon bei ihm in origineller Weise zur Sprache. In seiner am 14. Juni 1848 in Dresden gehaltenen Rede, "Wie verhalten sich republikanische Bestrebungen dem Königthume gegenüber?"*, fordert Wagner klar die "Zuertheilung des unbedingten Stimm- und Wahlrechts an jeden volljährigen, im Lande geborenen Menschen". Seine Idee aber ist, dass das Regieren, die "vollziehende Gewalt" beim "Könighause" verbleiben könne. – Nachdem Wagner die "republikanischen Bestrebungen" in seiner Rede dargelegt hat, kommt er zu folgender Beschreibung seiner Vision:
"Aber, fragt Ihr nun: willst du dieß Alles mit dem Königthum erreichen? - Nicht einen Augenblick habe ich sein Bestehen aus dem Auge verlieren müssen, - hieltet Ihr es aber für unmöglich, so sprächet Ihr selbst sein Todesurtheil aus! Müßt Ihr es aber für möglich erkennen, wie ich es für mehr als möglich erkenne, nun; so wäre die Republik ja das Rechte, und wir dürfen nur fordern, daß der König der erste und allerächteste Republikaner sein sollte. Und ist Einer mehr berufen, der wahreste, getreueste Republikaner zu sein als gerade der Fürst? Res publica heißt: die Volkssache. Welcher Einzelne kann mehr dazu bestimmt sein als der Fürst, mit seinem ganzen Fühlen, Sinnen und Trachten lediglich nur der Volkssache anzugehören? Was sollte ihn, bei gewonnener Überzeugung von seinem herrlichen Berufe, bewegen können, sich selbst zu verkleinern und nur einem besonderen kleineren Theile des Volkes angehören zu wollen? Empfinde Jeder von uns noch so warm für das allgemeine Beste, ein so reiner Republikaner wie der Fürst kann er nie werden, denn seine Sorgen theilen sich nie, sie können nur dem Einen, dem Ganzen angehören, während Jeder von uns, der Alltäglichkeit gegenüber, seine Sorgen organisch zu vertheilen hat."
Mit dieser Idee versuchte der junge Revolutionär eine Brücke zu bauen zu dem "Königshause Wettin", erreicht aber den Adressaten nicht. Die revolutionären Entwicklungen gehen weiter, Wagner muss fliehen und findet in Zürich Exil.

Rudolf Steiner im Jahr 1882, kurz vor
Richard Wagners Tod im Jahr der
Vollendung des Parsifal
Was aber nun waren die "republikansichen Bestrebungen", die der noch in seinen jungen Jahren stehende "Gesamtkünstler" in den Blick nahm, um sie – wie dies auch in der zitierten Stelle bei Rudolf Steiner zu Ausdruck kommt – demokratisch durch neue Gesetzgebungen zu erreichen? Demokratisch und dadurch getragen von der "Erkenntnis und Einsicht der wirklichen Majorität der Bevölkerung" (s.o.).

Im Zentrum dessen stand ein neuer Geldbegriff, der die Fähigkeiten des Menschen fördern und fruchtbar machen soll; bis heute, neben der Demokratiefrage, der wichtigste Punkt in den Aufgaben der gesellschaftlichen Neugestaltung und Befreiung des Geisteslebens! Von Wagner hören wir dabei folgende Beschreibung:
"Es wird zu erörtern sein, ob diesem geprägten Stoffe die Eigenschaft zuzuerkennen sei, den König der Natur, das Ebenbild Gottes, sich dienst- und zinspflichtig zu machen – ob dem Gelde die Kraft zu lassen sei, den schönen freien Willen des Menschen zur widerlichsten Leidenschaft, zu Geiz, Wucher und Gaunergelüste zu verkrüppeln? Dieß wird der große Befreiungskampf der tief entwürdigten leidenden Menschheit sein: er wird nicht einen Tropfen Blutes, nicht eine Thräne, ja nicht eine Entbehrung kosten: nur eine Überzeugung werden wir zu gewinnen haben, sie wird sich uns unabweislich aufdrängen: die Überzeugung, daß es das höchste Glück, das vollendetste Wohlergehen Aller herbeiführen muß, wenn so viele thätige Menschen, als nur irgend der Erdboden ernähren kann, aus ihm sich vereinigen, um in wohlgegliederten Vereinen durch ihre verschiedenen mannigfaltigsten Fähigkeiten, im Austausch ihrer Thätigkeit sich gegenseitig zu bereichern und zu beglücken. Wir werden erkennen, daß es der sündhafteste Zustand in einer menschlichen Gesellschaft ist, wenn die Thätigkeit Einzelner entschieden gehemmt ist, wenn die vorhandenen Kräfte sich nicht frei rühren und nicht vollkommen sich verwenden können, so lange - dieß ist die einzige Bedingung - der Erdboden zu ihrer Nahrung ausreicht. Wir werden erkennen, daß die menschliche Gesellschaft durch die Thätigkeit ihrer Glieder, nicht aber durch die vermeinte Thätigkeit des Geldes erhalten wird: wir werden den Grundsatz in klarer Überzeugung feststellen, - Gott wird uns erleuchten, das richtige Gesetz zu finden, durch das dieser Grundsatz in das Leben geführt wird, und wie ein böser nächtlicher Alp wird dieser dämonische Begriff des Geldes von uns weichen mit all seinem scheußlichen Gefolge von öffentlichem und heimlichem Wucher, Papiergaunereien, Zinsen und Bankiersspekulationen. Das wird die volle Emanzipation des Menschengeschlechtes, das wird die Erfüllung der reinen Christuslehre sein, die sie uns neidisch verbergen hinter prunkenden Dogmen, einst erfunden, um die rohe Welt einfältiger Barbaren zu binden und für eine Entwicklung vorzubereiten, deren höherer Vollendung wir nun mit klarem Bewußtsein zuschreiten sollen." 
Wagner zeigt mit diesen Worten, die aktuell nur als ››› "diffuse Rhetorik" verstanden werden,  dass er einerseits ein Vorverkünder ist von Gedanken der Dreigliederung – die "heute das Christentum sind" (Rudolf Steiner am 12. 6. 1919, GA 193, S. 107) – und andererseits versucht, dabei einen Weg einzuschlagen, der ohne äußere Brüche auskommt, sondern sich analog der Bewusstseinsentwicklung vollzieht – also ganz im Sinne der "moralischen Technik", wie sie in der "Philosophie der Freiheit" Rudolf Steiners beschrieben ist: Als "Fähigkeit, die Welt der Wahrnehmungen umzuformen, ohne ihren naturgesetzlichen Zusammenhang zu durchbrechen" (GA 4, Kap. XII).

Dieser Geist lebt in dem Künstler Richard Wagner fort und findet in seinem Parsifal den Höhepunkt. Die Uraufführung dieses "Bühnenweihfestspiels" fällt in die Zeit, in der Steiners Weg als Wissenschaftler  mit der Herausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften Johann Wolfgang von Goethes seinen Anfang nimmt. Dazu sollen weitere Ausführungen folgen.

* * *
Es wird oben gesagt, dass Richard Wagner seinen Adressaten, den König Friedrich August II von Sachsen, mit seiner Brücken-Idee nicht erreichen konnte. Bei der Tagung ››› "Kaspar Hauser - Das Kind Europas. Schicksalsrätsel unseres Kontinents" habe ich in meinem Beitrag zu zeigen versucht, wie wir eigentlich auf den verhinderten badischen Fürsten Kaspar Hauser blicken können, wenn wir seinen nur wenige Monate jüngeren Zeitgenossen Richard Wagner die Hand ausstrecken sehen nach der eines Fürsten in deutschen Landen, um von dieser Allianz aus die Menschheits-Wende vom alten monarchischen zum neuen demokratischen Zeitalter vollziehen zu helfen. Es ist die Tragik, dass diese Hand fehlte und Wagner zwar seine großen Kunst hinterlassen konnte, der "königlichen Kunst" des sozialen Bauenes aber für unsere gegenwärtigen Entwicklungen ein großartiger Auftakt in der Begegnung zweier dazu in ihrer Mission vorbereiteter "Sternenfreunde" fehlt.

Joseph Beuys im Gespräch mit Wilhelm Schmundt,
1973 in Achberg beim "Jahreskongress 3. Weg".
Sowohl Schmundt, wie auch der Achberger
Kontext dieser Begegnung, wird
››› in den zitierten Vorgängen
zu diffamieren versucht.
Dass bei Wagner diese Seite seines Wirkens fast immer ausgeblendet wird, die Frage nach seinem vermeintlichen Antisemitismus aber oft in den Vordergrund drängt, verdeckt gerade das an seinem Werk, was heute noch aktuell und nötig ist. Man kann in diesem Sachverhalt eine gewisse Parallele zu den ››› aktuellen publizistischen und medialen Vorgängen um Joseph Beuys nicht übersehen. Auch hier wird gerade das zu diffamieren versucht, was eigentlich in die Zukunft strahlen soll, um zu heilen, was an Wunden gerade durch jene Kräfte geschlagen wurde, die unterstellt werden. Eine Verkehrung ins Gegenteil findet statt.

"Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug", heißt es am Ende des Parsifal – Das Bild dieser wundersamen Lanze verweist damit auf das Doppelwesen des menschlichen "Ich". Es kann sich in seiner Selbstsucht offenbaren oder durch seine Kreativität heilsam wirken. Von all dem ist noch viel zu wenig die Rede, sodass die Dinge leicht verdreht werden können und dadurch die Taten des Ich mit denen des Ego drohen verwechselt zu werden. Und in dem so aufgewühlten Dreck wird versucht, gerade die hineinzuziehen, die in diesen Gefilden niemals zuhause waren.

Zu all dem hier nur Angedeuteten sollen weitere Ausführungen folgen. Einen ersten Bericht zu der genannten Tagung mit weitergehenden Gedanken auch zu dem hier Mitgeteilten findet man ››› hier. Heute – an seinem 200. Geburtstag – sollte hier etwas von Richard Wagner aufgezeigt werden, was für die weitere Emanzipations-Entwicklung der Menschheit nicht entbehrt werden kann!

Nachbemerkung am 30. Mai 2013:

Autogramm von Friedelind Wagner
Quelle: Wikipedia
Als ich am Vormittag des 200. Geburtstages Richard Wagners den obigen Text verfasste und die Gedanken und Zitate zusammenstellte befand ich mich zu Besuch bei Freunden in Herdecke. Beim Schreiben klangen mir auch die Worte eines Menschen im Ohr, die ich erst wenige Tage zuvor hörte. Es war eine Rundfunkaufzeichnung von ›››Friedelind Wagner (* 29. 3. 1918), die am 8. Mai zu ihrem 22. Todestag in der Sendung  ››› Allegro auf BR Klassik ausschnittweise als O-Ton wiedergegeben wurde. Die Enkelin des Komponisten, die als Kind noch auf Hitlers Schoß saß, verließ als Gegnerin des Regimes 1939/40 Deutschland. Bei der Übertragung einer Tannhäuser-Inszenierung von Arturo Toscanini, die 1942 zum 59. Todestages Richard Wagners († 13. Februar 1883) von New York aus auch in Europa zu hören war, bekam Friedelind Wagner die Gelegenheit öffentlich zu sprechen:
"Deutsche Hörer! Es mag Ihnen seltsam erscheinen, dass ich den Todestag meines Großvaters im Ausland, im feindlichen Ausland begehe und aus New York zu Ihnen spreche. Glauben Sie mir aber, ich habe Deutschland nicht leichthin verlassen und bin erst fortgegangen als die mörderischen Absichten des heutigen deutschen Regimes klar am Tage lagen. Selbst dann noch habe ich mich gefragt, wie würde mein Großvater, wie würde Richard Wagner gehandelt haben an meiner Stelle. Wäre er geblieben, hätte er sich den Nazis zur Verfügung gestellt, hätte er ihre Untaten gedeckt mit seinem Namen, der auch der meine ist? Kein Zweifel ist möglich: Richard Wagner, der die Freiheit und die Gerechtigkeit mehr geliebt hat als selbst die Musik hätte in Hitlers Deutschland nicht atmen können. So feiern wir den großen Deutschen, obwohl unser Land im Krieg ist mit Deutschland." (Zitiert nach Eva Rieger: "Friedelind Wagner. Die rebellische Enkelin Richard Wagners, Piper, E-Book-Ausgabe 2012, Kindle-Edition, Position 3321)
Als ich noch am selben Abend in Krefeld – der nächsten Station meiner Reise – von dieser mir bis vor kurzem noch unbekannten Persönlichkeit erzählte und berichtete, dass ihre Worte auch mitklangen beim Verfassen meines Artikels, bemerkte ich beim Blättern in ihrem Wikipedia-Eintrag, dass Friedelind Wagner in Herdecke – von wo ich gerade kam und wo mein Beitrag entstanden war – gestorben ist. Sie war an Krebs erkrankt und wurde in dem auf der Grundlage anthroposophischer Medizin gegründeten Gemeinschaftskrankenhaus behandelt.

Dies war – als ein weiteres typisches Beispiel für den auf diesem Blog beschriebenen ››› Gangandi-Greidi-Weg – noch nachzutragen.
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*) Richard Wagner: Wie verhalten sich republikanische Bestrebungen dem Königthume gegenüber? in: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe, Leipzig: Breitkopf & Härtel, o.J. [1911]. Bd. 12, S. 218-227.

1 Kommentar:

  1. Nun fand Richard Wagner eine Verbindung mit einem Mitglied eines Königshauses in Ludwig II.. Früchte davon findet man in Hohenschwangau im Schloss Neuschwanstein. Nur wurde
    Ludwig II. von seiner Umgebung nicht verstanden. Auch verstand er sich selbst nicht ganz in seiner Aufgabe als Vermittler der Mythische und Christliche Inhalte mit denen er schon in seine Kindheit in Berührung kam und dann in den Musikdramen Richard Wagners wiederfand.
    Und von welcher er bestrebt war, diese in der Architektur des Schlosses und in den Abbildungen und in den Räumlichkeiten des Schlosses zum Ausdruck kommen zu lassen. Ohne dieses Unverständnis wäre Ludwig II. womöglich nicht zu seinem tragischen Ende gekommen. Aber dieses Unverständnis kann man ja in Zusammenhang sehen mit einerseits der Verhinderung Kaspar Hausers, als auch mit der Nichtweiterführung der deutschen Klassik und Romantik im 19. Jahrhundert, welche nicht die Kraft hatte bis ins Politische hinein zu wirken. Wodurch Deutschland im Laufe des 19. Jahrhundert in der Falle des nur Militarismus und Nationalismus fiel und Ludwig II. wiederum durch diese Geschehnisse der Zeit (Krieg mit Frankreich und die daraus resultierende Geburt des Einheitsstaates Deutschland) einerseits seine Souveränität als Fürst abhanden kam wodurch er in ein Vakuum kam und er andererseits nicht in der Lage war in Sachen Kunst wirklich ein Führer der Menschen zu sein. Dieses konnte er nicht mit vollem Bewusstsein ergreifen (außer das er in der Lage war Wagner zu fördern und zu unterstützen). Das war die Tragik.
    Ludwig II. stand in der ungelöste Frage nach der Durchdringung des Politischen mit dem Geistigen, im Sinne des obengenannten Zitates R. Wagners über das Regieren.

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