Geschichte des Steins


Gerhard Schuster





Die Geschichte des Steins

Ewiges Fragment




Gedichte

24.7.1999 -









































mir gegenüberstehend,
fürchtet er,
mir entgegenzutreten,
in mich einzutreten,
in letztem vertrauen,
nähe vollendend,

dann soll es sich zeigen
– was wir schon wissen –
und dennoch so fürchten:
wird sie bestehen?

aus dem wollen, sie zu vollenden,
wird er es tun

irgendwann

und ich
– seiner erwartend –
lasse
es
zu.

(und in seinem ernst ist es auch mein wollen)

und sie wird,

(neu)

    fernen,

        dem tod

trotzen.








































Es gibt eine Geschichte, die – wenn man sie erzählt – verschwindet. Es ist ein Teil dieser Geschichte, dass man sie nicht erzählen kann. Das ist die Geschichte des Steins. Die sich hier offenbaren will.

Das Erzählen dieser Geschichte ist das Verhängnis. Der Sternenstaub – unsere Geschichte –  tritt in die Atmosphäre und verglüht. Unsere Geschichte – ich habe sie schon versucht zu erzählen: ihr und ihr (und dir und uns) – verglüht. Noch bevor sie die Erde erreicht – zwischen Kosmos und Erde. Die Erde aber muss sie hören.








































Nennst mich einen Mörder
und siehst nicht, dass ich töten musste,
was in Dir aus den Gräbern
neu
geboren werden muss.

Nennst mich Mörder
und tust nicht
Deine Pflicht, mich
in Dir zu gebären!

Darf ich es Dir sagen?












































Obwohl er ihren Atem geatmet. Obwohl ihrer beider Hände sich erkannten. Obwohl ihre Lippen sich jäh und unscheinbar berührten und für kurze Zeit verschmolzen – ihre Haut sie nur noch trennte, nichts sie mehr trennte. Sie sich atmeten. Sie ist ihm wieder entschwunden. Er ist ihr wieder entschwunden. Das ist die Kraft der Erde und der Vergangenheit, aus der sich alles herüberspinnt.

Diese Geschichte zu erzählen, birgt Gefahr. Leicht, nur allzu leicht stößt sie uns in die Entfernung: Sie ist ihm in die Entfernung gerückt. Hat er sie in die Ferne gestoßen? Er will sie zurück. Wo ist sie hin? In welchen Abgrund stieß er sie? In welche Hölle ließ er sie sinken?










































Gedanke, heb an!
Richte die Kraft deines Wesens
an deines Schöpfers
Genossen.

Zeig dich in Tat,

dort
wo der Mensch
mit dem Menschen
ist.

Zeig dich in Tat,
            dort wo der Grund
            allen Übels ist.
            dort wo der Grund
            alles Heils ist.

„Heb an, Denken und schaffe Gedanken!“,
so laute!









































Die Erde – ihr Leib – bebte vor Glück. Die Sterne und ihre Bewohner jubelten. Als die längst verbundenen Seelen sich fanden. Noch kann oft und oft das Band nicht erneuert werden. – Über die Erde ist ein Glas gestülpt und über jeden Menschen. Ich sehe Dich und laufe dir zu, doch ich übersah die gläsernen Wände. Die Wände der Gewohnheit, gesponnen aus gespenstischen Vergangenheiten.

Erzähle die unerzählbare Geschichte! Erzähle sie ihr und ihr und ihm und warte auf ihre Ohren!










































Du sollst nicht nach dem Leben der
anderen Gedanken trachten.
Alles zu wissen, aber kein Interesse haben.
Und diese Sprache, die schon zensiert.
Selbstsichere Ignoranz.
Schatten.
Blüten und keine Früchte.
Es geht nicht,
keine Fragen,
no ideas.

Mein Reich ist nicht von
dieser Welt.









































Er saß am Wasser und warf Steine. Es war still. Ein Stein nach dem anderen versank – wie viele mussten es noch sein? Er hatte sie verloren – verstoßen. Er hatte sie beraubt und die Erde drohte wieder den Gesetzen der Schwerkraft zu unterliegen. Die Sehnsucht war größer denn je.

Wie lange schon sitzt er am Wasser und wirft Steine?










































Ich bin im Herbst geboren,

mein Frühling und mein Sommer

waren kurz,

der Winter steht bevor:


Wer
bin
ich?

Ich bin
      
wie Du

        im Herbst geboren.









































Er griff nach einem weiteren Stein, der halb aus dem Wasser ragte. Er holte aus und wollte schon werfen. Als er plötzlich inne hielt und den Stein ansah und ein Gesicht – ihr Gesicht in ihm entdeckte. Das erste mal sah er wieder ihr Gesicht. Er konnte nur noch ihren Rücken sehen, wenn er die Augen schloss. Ihre von ihm weggehende Gestalt. Und jetzt ihr Gesicht, das er verloren hatte, das er ihr genommen hatte. Er küsste den Stein und verwahrte ihn an seinem Herzen, um ihr ihr Gesicht bald zurückgeben zu können.










































Welchen der Steine du hebst –
nichts Wahres im Falschen.

Welchen der Bäume du fällst –
nichts Wahres im Falschen.

Welches der Worte du sprichst –
Nichts Wahres,
wo nicht Wahres der
Gedanke
gebiert.

(nach Paul Celan)









































Nur ihren Rücken und ihr bis kurz über die Schultern reichendes Haar konnte er sich vergegenwärtigen. Sie haben sich verabschiedet und gingen auseinander. Er hatte sich noch einmal umgewandt und sah sie, wie sie sich von ihm entfernte. Und wenn er die Augen schließt, um sie sich zu vergegenwärtigen, sieht er nur die sich entfernende Gestalt. Er wunderte sich, als er sie wieder sah, dass er sie wieder erkannte und wieder und wieder. Nur nach vorne ging es nicht.

Kein Erkennen in der Zukunft.










































Liebesgedicht

Wie beneid‘ ich die Kinder
um ihre Mütter:
Sieh nur Mutter,
wie der Wald grün ist
und der Apfelbaum blüht
und wie das Rot riecht.

Sieh nur Mutter, das Reh
auf der Wiese! Sieh nur!

Und am Abend liegt das Kind,
den Kopf auf ihrer Schulter,
in den Armen der Mutter
und eine Hand fährt
durch sein Haar.

Und es gibt Dinge,
die kann auch ich dir nur erzählen,
wenn mein Kopf auf deiner Schulter
liegt oder in deinem Schoß
und ich mit geschlossenen Augen
zu dir hochblicken darf.

Deine Hand spielt durch mein Haar.

Und ich
würde dir genau das erzählen.

Aber da du dich klein fühltest, wie ein
Sandkorn,
hätte ich dir nicht den ganzen Kosmos
schenken dürfen.

Aber wie konnte ich anders!









































Seine Hände schmerzten ihn. – Ihre Hände schmerzten ihn. Das Fehlen ihrer Hände. Das Fehlen ihrer spielenden Finger zwischen den seinen bereitete ihm Schmerzen. Der fehlende Druck, wenn sie ihre Hand an die seine legte – die fehlende Wärme und die Frische der Haut – die Frische ihres Atems auf seiner Haut, auf seinen Wangen, auf seinen Augenlidern. Sein Leib schmerzte ihn. –  Die Wunde, die aufbrach, als ihr Körper sich von seinem löste.

Dort wo ich ende, beginnt sie und hat davor schon begonnen. Dort wo mein Leib endet, fehlst Du. – Dort ist der Schmerz, der Deinen Platz einnimmt!  Dort ist Dein Fehlen.

Ich will meine Seele ganz rein bekommen. Ich will mich anweisen, um meinen Leib herum, alles sauber zu fegen, um für Dich Raum zu schaffen.

Wenn sein Körper sich mit ihrem verband – wenn Mensch und Mensch zusammen spielten, bis in die Fingerspitzen und einer nicht wissen kann, wohin es geht. – Und so erwartet er das Unerwartbare.
Elektrisierte sich an dem Spiel ihrer Finger, die sie bewegte und spielte selbst.

Und dort, wo jetzt der Schmerz liegt,
war ein Spiel von Kindern.










































Inkarniert in der Asche unserer
vergangenen Leben.
Dankbar dem Tod, der immer wieder
von Zeit zu Zeit dem ein Ende macht
und uns ins Licht setzt –
aber einmal muss die Zeit kommen,
wo wir Stein und Asche noch sehenden
Auges vor uns hintragen, um uns
im Leben zu neuern und die
Brücke hinüber
– den Tod
im Leben –
schlagen.









































Deine Sprache beschreibt ohne zu benennen. Sie ist sanft, doch dieses Wort ist das letzte, was in ihr zu finden wäre. Wie auf einem Schachbrett wechseln die schwarzen und weißen Felder, begrenzt in einem Quadrat acht mal acht. Festgelegt bewegen sich die Worte in unendlichen Konstellationen immer fort, Zug um Zug, in einem Spiel, das im­mer nur in einem Remis endet.










































Fotografie eines blinden
Mädchens


das blindgeborene
mädchen trägt den
liebesbrief in
brailleschrift zwischen
seinen fingern, und hält
ihn mit leicht gehobenen
armen an sein herz

– als ob wir sehenden
unsere briefe mit den
augen halten könnten –
und indem irgendwer es
fotografierte,
richtet es sich auf und
wendet mir – der ich
nicht sein liebster bin –
das ohr zu.









































Er liebt sie, wie alles andere, wie nichts auf der Welt.









































Habe Durs Grünbein gelesen. Und
weggefegt. Heute Morgen
um halb vier. Wieder
hervorgenommen heute Mittag:
Neonhöllen und Autokolonnen
interessieren mich
weiterhin nicht. Da
ist mir Hölderlin näher.
Grünbeins Blicke
auf manifeste Illusionen
unserer Zeit. Manifestation
von manifesten Illusionen und
dazwischen
– über
Hier und Jetzt hinaus
will ich sehen –
das Leuchten der Ewigkeit:
Wer bin ich?
Nichts
worauf sein
Blick
fällt.








































In junge strahlende Augen in einem alten Gesicht wünscht er einst sehen zu dürfen, seine Hand auf faltige, papierene Haut zärtlich zu legen und mit seinen Fingern durch schneeweißes Haar zu spielen. Doch jung schon kam sie ihm abhanden! – Liebte bis zur höchsten Leidenschaft und war dann abermals auf ewig von seiner Geliebten getrennt.









































politisch korrekt

nicht dort
wo du meinst
verbissen korrekt
sein zu müssen
dort nur
wo du unverbindlich bist
liebe ich dich
schwingen seit eh
wir
im gleichklang
unserer sterne

doch was soll
dies astrale treiben

wo das glück keinen boden hat
will keiner zelte aufschlagen

warum nur so verbissen?
DU








































Die Vorstellung zeigt einen
schönen Menschen

Ich habe die Hoffnung verloren. Ich hatte sie noch, als ich in der Stille allen meinen Schwestern und Brüdern gegenüberstand. Ich nannte sie Fremde, weil ich vermeinte, sie nicht zu kennen. Ich vermeinte sie nicht zu kennen, gerade als ich sie erkannte; ohne es zu bemerken – so ging es allen. So blieb ich ein Fremder für sie, wie sie mir fremd blieben. Ich bin vorsichtig geworden.

Ich habe mir die Hoffnung verboten, als ich erkannt habe, wie Hoffnungen enttäuscht werden. Ich erkenne in allen Fremden die Schwester, den Bruder und ich warte, erwarte ihr Erkennen, weil ich weiß, dass wir uns einst bekannt haben, wenn ich hoffe, werde ich enttäuscht, weil ich weiß, warte ich tätig.

Noch nie ist es gelungen. Du glaubst, es könnte gelingen und du übersiehst, wie es schon wieder lauert. Gerade, wenn das Neue kommen will, kommt es auch wieder hervor gekrochen und schiebt sein Bild davor. Alle beten es an, auch die, die noch hoffen.

 Du hast die Illusion verloren, doch fürchtest du dich, so nackt wie du nun bist. Ich mache mich nackt, dass du und alle mich erkennen.

Neue Illusion kleiden uns bereits.

Wenn wir wach sind und handeln, nicht!

Dem Menschen wird eine
Liebeserklärung gemacht


Doch wenn es handelt?

 Das ist die Tragödie: dann ist es zu spät!

Und wenn es zu spät ist?

Dann müssen wir warten und uns vorbereiten.

Wie oft?

Immer fort! Bis es für lange Zeit zu spät sein wird und dann erst recht.

Du hast keine Hoffnung.

Nein. Ich bereite mich vor.

Du liebst das Unmögliche!

Ja.

Das ist die Komödie?

Ja, die Komödie.









































Es scheint ihm eine Sonne herunter von diesem Bild, das sie ihm schenkte. Eine Sonne, die einst ihr und dem anderen schien. Warum hatte sie ihm dieses Bild geschenkt? Ein Dorf unter südlichem Himmel, ein Weg zwischen den Häusern die Anhöhe hinauf. – An einer Hausecke stehen zwei Gestalten. Wer sind die beiden? Was haben sie zu verhandeln? Wird ihr Weg zu zweit fortgesetzt? – Bilder zur Erinnerung an einen Aufenthalt in einer fremden Weltgegend. Zur Erinnerung an einen gemeinsamen Aufenthalt. Warum hängt das Bild bei ihm? Sie hat es ihm geschenkt – es erinnert an eine nicht gemeinsam verbrachte Zeit, mag es scheinen, an eine Zeit, die sie mit dem anderen verbrachte. Täuscht er sich darüber, nur weil es so war?

Er betrachtet das Bild und wundert sich, dass ihm diese Sonne scheint, dass ihn diese Sonne wärmt.

Wer sind die beiden Gestalten, die da an der Hauswand stehen?









































Hoffnung  
auf der Suche
ihres Ursprungs.

Niemals abgekommen
für lange.

Ich
auf der Suche
meines Ursprungs

und am Ende des Weges,
wenn mir das
ICH
begegnet,

wird sie
sich erfüllen –

dann,

wenn auch ich den Tod
überwinden werde,

wie einst ER ihn

– als Hoffnung

das erste mal wurde –

überwand.








































Mädchen aus dem Ort,
wo ich herkomme,
wo unsere Hände sich schon
in Kindestagen kannten
und wieder erkannten,
als unsre Finger sich jetzt
an diesem letzen Sommertag
umspielten.








































erwachend
aus der nacht
- dem ozean der stille -
seele
die tosend schweigt
und meerestill verschlossen
den einschlag
des herabfallenden sternenstaubs
erwartet
korn für korn 








































Zu schweben, er alleine, es war schwer, doch schwerer und fast unmöglich schien es ihm, mit all denen, die sich sammeln sollten zu der großen Schlacht, sich zu erheben in die Zukunft hinein. Und die Zukunft bedarf ihrer.









































Den Gesang hören
und zu ahnen beginnen,
dass es das Lied der Erde ist.

Stimmen und Klänge
unendlich verwoben und
unendlich ganz Eins.

Spötter krächzen
singen ihr eigenes Lied,
ihre Lieder und fragen,

wohin
ich
sie führe.

Wohin?

Den Schrei im Verstummen: „hört zu“,
vernimmt nur noch der,
der ihn spricht.








































Traum vom 16. November 2001

Entlang unterirdischen Gängen
Treppen hinauf
durch Korridore
kam ich in das
Klassenzimmer
mich
zu
retten.

Der Auftrag hieß Entführung.

Da batest du uns
dich mitzunehmen.

Keiner außer dir wollte noch mit,

nur du und ich.


Zurück,

unter der Straße
hindurch, 

auf der rettenden
anderen Seite

umarmten wir uns.








































Sein Dichten ging nach Norden und nach Osten, sein Dichten ging nach Westen und geht nach Süden, da es Herbst geworden ist.









































Nicht aus Angst und Not,
aus der Fülle schöpfen wir
mit den Engeln
und den Freunden aller Zeiten,
toten und lebendigen,
Freundin du!








































Sie erzählte ihm, dass sie ein Gefühl habe: es fehle ihr jemand, den sie kannte, den sie kennt. Aus früheren Vergangenheiten, aus einem früheren Leben vielleicht. Ein eigenartiges Gefühl der Einsamkeit.

Auf der Erde, in der Zeit hat sich das bekannte Wesen nicht eingefunden.

Und wenn, wir haben uns noch nicht gefunden. Und wenn, wir haben uns noch nicht erkannt. Und wenn, wir wissen es noch nicht ...

... und wenn wir es wissen, wir haben noch nicht den Mut in das Werdende hinein.

Wann ...









































Und mir gegenüberstehend,
hat sie Angst,
mir entgegen zu treten,
um in mich einzutreten,
in letztem Vertrauen
zu vollenden
die Nähe,

denn dann soll es sich zeigen,
- was wir schon wissen
und dennoch so fürchten -
ob sie
bestehen
kann.

Aus dem Wollen, sie zu vollenden,
wird sie es tun, irgendwann
und ich –  ihrer erwartend –
ließe es zu

(und in ihrem Glauben
ist es auch mein Lieben)

Und die Nähe wird,
aufs Neue
bekräftigt,

(hoffend)


    jede Ferne,

        selbst den Tod

besiegen.








































Nachspiel:


Jenseits des Tennenden








































Ewige Seelen, allein

Was Liebende aller Zeiten
wussten und taten,
wir tun es auch:

Blicken hinauf in die Sterne
in selber Nacht,
zur selben Stunde
und suchen den über uns
hinziehenden Wagen.

So - ferne Geliebte -
sind wir uns nah,
wie zu allen Zeiten
voneinander Getrennte.

Doch was nicht viele ahnten,
das wissen wir:

Es ist der myriadenweite Weg
durchs ALL, der uns verEINt
zusammenführt.

(April 2009)








































liebesgeflüster (gespräch)

halte die hand auf
und lege hinein
mit deinem denken
die schönste blume
die du nur kennst:

lass sie
verschlungen hundertfach
wachsen zu einem
neuen ding,
und dies gebilde dann
- mit tausend andren
zu einem kranz verwoben -
um das Herz der Welt
lebendig kreisen;

dann hätten wir,
wovon wir hier
auf erden
doch immer nur
zunächst ein einzig
blättchen
in der zeit gebären.


(30. Mai 2007 - Dantes Geburtstag)








































Diese Sammlung ist über Jahre hin immer wieder überarbeitet und erweitert worden; der Kern des "ewigen Fragments" ist um das Jahr 2000 entstanden und blieb mir die ganze Zeit über ein inneres Vademecum. Bisher nur einigen Weggefährten überreicht, will ich sie nun - einer armen Seele wegen - allen, auch den unbekannten Freunden an die Hand geben.

(GS, 4. Oktober 2012)



» nach oben